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Ich bin echt kein Fan von diesen Büchern zur „Lebensstiloptimierung“. Ein paar Dinge habe ich mir auch ohne deren Rat angewöhnt (Bett machen nach dem Aufstehen, Sport), und ein paar finde ich absolut beschissen. Trotzdem war ich neugierig, als mehrere meiner Kolleg:innen anfingen, morgens eine Stunde früher aufzustehen (oder nachmittags, viele von uns sind natürlich Schichtarbeiter:innen).
Die Idee hinter der zusätzlichen Stunde ist es, zwanzig Minuten jeden Morgen mit Sport, zwanzig mit „Mindfulness“, und zwanzig damit zu verbringen, etwas Neues zu lernen.
Von Mindfulness halte ich ausgesprochen wenig. Die Idee, sich mal auf sich selbst zu konzentrieren, ist ja nicht dumm, aber der Schwurbel der das Feld umgibt, ist dick und oft undurchdringlich. Ich schreibe aber seit schon fast 30 Jahren jeden Abend in mein Tagebuch, und das auf den nächsten Morgen zu legen, hörte sich nicht nach einer dummen Idee an.
Sechs Monate Später
Früher aufstehen ist wirklich nicht das Problem. Als Schichtarbeiter habe ich es mir angewöhnt, meine Schlafzeiten flexibel zu halten und einfach in mich hineinzufühlen, wie viel Schlaf ich benötige, und dann halt entsprechend ins Bett zu gehen.
Mein „Ritual“, wenn man es denn so nennen kann, ist dann immer das gleiche: Aufstehen, Kaffeemaschine an und Wasser in den Wasserfilter, Sportklamotten anziehen. Während der Kaffee läuft, mache ich die „Ranger 75“ (das Regiment, dem die Rangers im 17. Jahrhundert zugeordnet wurden, war das 75, und obwohl das alles seitdem mehrmals umgestellt wurde, sind die US Army Rangers immer noch das ‚75th Ranger Regiment‘). Das sind 75 Liegestütze, 75 Kniebeugen und 75 Sit-ups. Eigentlich gehören da auch noch 7,5 Kilometer Rennen rein, aber mein Jogging mache ich am liebsten am Abend, wenn weniger Fahrradfahrer auf den Wegen sind.
Danach kümmere ich mich um mein Tagebuch. Seit einigen Jahren nutze ich Day One, auch wenn ich kurzfristig mit Craft und Obsidian experimentiert habe. Weil ich ein beschissener Tipper bin, ist alles erst einmal Spracheingabe, die ich dann am Computer später (oder auch nicht) korrigiere. Wichtig ist nur, dass ich reflektiere und meine alten Ziele bespreche und neue setze.
Die dritten 20 sind dann das „etwas Neues lernen“ – oder, in meinem Fall, Sprachen lernen. Gerade bin ich dabei, mein Spanisch aufzufrischen und etwas mehr Ukrainisch. Beides geht so lala, aber besser als die alte Nussschale ganz und gar verkümmern zu lassen.
Nach der Stunde dusche ich, ziehe mich an, mache meine Morgenhygiene, und pflege den Son of Son of Bamboo.
Resultat
Die ersten zwei Wochen waren schwer. Besonders der Sport gleich nach dem Aufstehen benötigte etwas Anlauf, meine Zeit in der Army ist schon lange genug her, dass ich das nicht mehr gewohnt war. Nachdem ich es, schimpfend und schwitzend, für zwei Wochen durch hatte, wurde es sehr viel leichter.
Tagebuch am Morgen hat in der Tat viele Vorteile. Die „Hitze“ des Abendgemüts ist etwas abgeklungen, und ich merke immer öfter, dass ich mich abends in den Schlaf denke, während ich den Tag in Vorbereitung auf das, was ich schreiben will, Revue passieren lasse.
Nur das mit dem Lernen, das ist wirklich immer noch Gewöhnungssache. Ich merke immer noch, dass ich meine Sozialmedien und eMail checken will, statt mich auf das Lernen zu konzentrieren. FOMO is real, folks. Das erlaube ich mir aber erst nach der Stunde, was oft zu internem Hadern führt. Bisher bin ich nur einige Male schwach geworden, es wird auch ein wenig besser, aber mich mit Instagram vor dem Lernen zu drücken, das habe ich schon in der Ausbildung perfektioniert.
Nach sechs Monaten muss ich sagen, dass es zur Natur geworden ist und damit recht einfach. Das Lernen hat wirklich extrem was gebracht, und der Rat den ich von einer Bekannten bekommen habe, dass ich wirklich etwas suchen soll, das mit meinem Job und meinen Hobbys so wenig wie möglich zu tun hat, war Gold wert. Wir sind rasch dabei, unsere eigenen vier mentalen Wände als den Goldstandard des Wissens zu sehen und alle anderen Interessen als banal abzustempeln. Indem ich wirklich „Neues“ lerne, von Sprachen zu nautischen Knoten, trainiere ich anscheinend auch mein Gehirn, die Interessen anderer als valide und wichtig wahrzunehmen.
Gesundheitlich geht es mir viel besser, und die Reflektion am Abend mit Abarbeitung am nächsten Morgen hat auch ziemliche Vorteile. Natürlich ist der Plural von Anekdote nicht “Daten”, aber zumindest mir hats geholfen.
Tut am Anfang ziemlich weh, aber da muss man durch. Die Belohnung am anderen Ende war es, für mich, auf jeden Fall wert.
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Cite As (NEJM):
- Mikka. "20:20:20." mikka.md, February 4, 2025. https://mikka.md/2025/02/04/202020/
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